Elke, erzähl doch mal ein wenig über Dich!
Also: Ich bin eine leidenschaftliche Pädagogin, wie man das so schön sagt, und als Geschäfts- und Fachbereichsleitung hier in der Teutoburger Straße für den Kreis 74 verantwortlich.
Was begeistert Dich so an der Arbeit hier?
Das Ganze ist für mich eine großartige Möglichkeit, sinnstiftend zu arbeiten. Das Projekt verbindet mich mit anderen Menschen, die sich ebenfalls engagieren – etwa, indem sie mit Inhaftierten einen Briefwechsel unterhalten oder sie bei Freigängen begleiten. Ganz einfach gesagt: Ich will, dass Menschen eine zweite Chance erhalten. Das Engagement beim Kreis 74 gibt mir daher auch selbst eine ganze Menge zurück.
Wie bist Du denn damals auf den Kreis 74 aufmerksam geworden?
Ich habe mich damals beruflich umorientiert und bin über ein Gespräch mit jemandem, der hier bereits aktiv war, auf den Kreis 74 gestoßen. So erfuhr ich, dass der Kreis 74 Unterstützung sucht, und das Projekt hat mich sofort begeistert.
Bist Du im Zuge Deiner Tätigkeit hier auch schon an Deine ethischen Grenzen gestoßen?
Nein, eher nicht. Natürlich gibt es immer Straftaten, die ich stark verurteile. Dennoch bin ich keine Richterin oder die Staatsanwaltschaft, sondern eine Mitarbeitende der freiwilligen Straffälligenhilfe. Irgendwann werden all diese Menschen, zumindest die meisten, auch wieder unter uns leben. Deshalb ist es sehr wichtig, sie bei ihrer Resozialisierung bestmöglich zu unterstützen. Ich trenne Berufliches und Privates dabei sehr genau.
Gab es denn Situationen im Ehrenamt, die überfordernd waren?
Im Rahmen einer Beratung erzählte mir eine Ehrenamtliche, dass sie Probleme mit dem Thema Fetisch bekommen hätte. Der Inhaftierte hat das im Briefkontakt wohl immer wieder angesprochen. Da kann ich mir vorstellen, dass das den echten Kontakt im Ehrenamt erschwert.
Was denkst Du, hat die Inhaftierten überhaupt dazu bewogen, kriminell zu werden?
Bei manchen war es eine falsche Entscheidung im Leben. Manchmal steht auch eine längere und komplexe Geschichte dahinter. Ab und zu spielen psychische Störungserkrankungen eine Rolle oder jemand hat moralisch verwerfliche Neigungen wie Pädophilie. Wir reden hier gerade über die wirklich schweren Straftaten, über sexuellen Missbrauch von Kindern, sexuelle Gewalt bis zu Mord. Aber ganz genau kann ich das natürlich nicht sagen.
Was bietet der Kreis 74 denn generell konkret an? Erzähl uns gerne mehr über euer Angebot.
Es gibt bei uns viele Möglichkeiten für ein ehrenamtliches Engagement. Ein Aspekt ist die Beratung Straffälliger und deren Angehöriger. Außerdem begleiten wir Menschen, die ein wenig Unterstützung in ihrem Wohnraum brauchen – etwa in Form eines ambulant betreuten Wohnens. Wir bieten auch einen sozialen Trainingskurs, der sich an jugendliche Straftäter richtet, in dem sich diese mit ihren gerichtlichen Urteilen auseinandersetzen.
Ganz neu im Programm ist die Kriminalprävention. Dabei bieten wir Coachings und Präventivtrainingseinheiten an weiterführenden Schulen an. Aktuell bauen wir dieses Angebot noch aus.
Wow, das Thema ist also auch schon in Schulen derart präsent?
Wir haben festgestellt, dass die Jugendlichen und Heranwachsenden die Themen ihrer Peergroups nirgendwo sonst besprechen können. Die Schule hat oft kein offenes Ohr – genau wie die Eltern. Wir kommen von außen, sind neutral und begegnen den Jugendlichen auf Augenhöhe. Deshalb sprechen sie ganz ernsthaft mit uns über ihre Probleme und mögliche Lösungswege.
Was ist der Unterschied zwischen den USA und Deutschland? Speziell mit Blick auf den Ausdruck „Wattebäuschchengefängnis“.
Erst heute hatten wir einen Langzeitinhaftierten zu Besuch, der wegen Mordes eine lebenslängliche Strafe absitzt. Jetzt hofft er, in seinem 19. Haftjahr entlassen zu werden. Betrachten wir einmal nur diesen Fall: Er sitzt seit 19 Jahren in einer Zelle, die durchschnittlich 9 Quadratmeter groß ist. Alles ist fremdbestimmt – wann ich esse, was ich esse, wie viele Klopapierrollen ich habe, was ich anziehe, wann ich mit wem sprechen darf und vieles mehr. Auch Besuche und Telefonate sind streng limitiert. Das hat mit „Wattebäuschchen“ nicht viel zu tun. Das ist für mich Talkshowwissen. Deshalb ist auch der Vergleich mit den USA schwierig. Die haben dort völlig andere Haftbedingungen. Selbst in Deutschland sind Toilette und Bett oft in einem Raum – ohne Trennwand. Wer von uns würde das dulden wollen? In alten Gefängnisbauten sind teilweise die Fenster hoch oben angebracht, um Gott um Vergebung und Sühne zu bitten. Es gibt dort außerdem kaum Knäste, die einigermaßen zeitgemäß sind. Ob in Deutschland oder in den USA: Im Knast führst Du ein absolut fremdbestimmtes Leben. Ich ziehe meinen Hut vor allen, die dort entlassen werden und noch in der Lage sind, sich in der Freiheit ein eigenes Leben aufzubauen.
Wie sieht denn der Alltag in so einer Zelle aus?
Zunächst: Für mich ist das alles nur Theorie. Ich glaube, es fängt mit der Lebendkontrolle an. Und dann ist das ganz fest getaktet. Es gibt feste Routinen, für die, die im Knast arbeiten, und natürlich auch die anderen, die ohne Arbeit irgendwie die Zeit in der Zelle sinnvoll überbrücken müssen.
Was für Einschränkungen erleben die Inhaftierten und wie geht es ihnen dabei?
Sie haben keinen Kontakt auf Augenhöhe. Der Besuch von heute hat das auch noch einmal stark betont. Der Moment, wenn die Zellentür hinter den Inhaftierten zufällt und sie bemerken, dass es keine Klinke mehr gibt, soll besonders prägend sein. Ein sehr großes Thema ist dabei immer wieder die Fremdbestimmung, alles findet im Machtverhältnis statt. Keiner hat ein Mitbestimmungsrecht. Es besteht kein Anspruch auf Klärung oder Transparenz. Alles ist sehr trist. Das ist sicherlich nicht überall so. Der Alltag der Inhaftierten besteht aber in jedem Gefängnis überwiegend aus Zellentüren und riesigen Schlüsselbunden. Sicherheit und Ordnung stehen im absoluten Vordergrund.
Was würde die Kriminalitätsquote aus Deiner Sicht senken?
Kriminalität lässt sich nur durch gesunde gesellschaftliche Bedingungen minimieren. Bedingungen, in denen sich der Mensch auch bewegen kann. Natürlich gibt es Ausnahmen wie psychische Erkrankungen, aber wir reden ja hier in der Regel von Lebenswegen, die sich entwickeln.
Und wie geht es nun mit dem Langzeitinhaftierten von vorhin weiter?
Er sprach davon, dass er sich etwas Neues aufbauen möchte. Er fängt ja bei Null an und kennt kein gesundes Leben, sondern nur Gewalt, Schläge und Ablehnung. Er ist ganz jung im Knast gelandet und hat nun 20 Jahre seines Lebens verpasst. Kürzlich habe ich mit jemandem gesprochen, der sogar 30 Jahre eingesessen hat. Es gibt derart viele Dinge und Entwicklungen, von denen er überhaupt nichts weiß, dass man sich das kaum vorstellen kann!
Welche Zukunftsaussichten haben die Inhaftierten nach ihrer Entlassung?
Das kommt zunächst darauf an, von was für einer Art von Inhaftierten wir reden. Grundsätzlich werden die Menschen mit ihrer Inhaftierung erst einmal aus ihrem Leben herausgerissen. Sie verlieren ihre Sozialkontakte und ihre Selbstbestimmung. Sich dann nach der Entlassung wieder zu integrieren, ist ohnehin eine große Herausforderung. Die Entlassungsvorbereitungen sind dabei auch nicht gerade förderlich, denn den Inhaftierten wird nicht die Möglichkeit gegeben, ihre Tage selbst zu strukturieren oder sich Sozialkontakte zu suchen. Die Menschen werden zudem stigmatisiert. Lange Haft kann man auch nicht einfach im Lebenslauf verbergen. Viele Faktoren hängen dann auch vom Arbeitgeber und Vermieter ab. Ist der Inhaftierte bekannt, macht es das Ganze noch mal schwieriger. Es braucht viel mehr Offenheit und Akzeptanz in der Gesellschaft, die es den Inhaftierten ermöglicht, wieder den Anschluss zu finden.
Wie könnte ein begleiteter Ausgang aussehen?
Nach 20 Jahren Knast fällt das nicht jedem leicht. Das ist immer sehr individuell. Wir haben zwei Ehrenamtlerinnen, die Begleitausgänge in der JVA Bielefeld-Senne organisieren. Manchmal gehen sie zur Sparrenburg, in den Botanischen Garten, mal durch die Stadt, mal zum Frisör oder sie machen einen Behördengang. All das ist für jene ungewohnt, die lange in Haft waren.
Man nimmt den Leuten regelrecht das Selbstbewusstsein und die Möglichkeit, soziale Kompetenzen zu entwickeln, die ja ohnehin meist nicht gelernt worden sind.
Es gibt auch ganz viele Rückentwicklungen. Ich habe mit einer Inhaftierten geschrieben, die sich sechs Monate mit einem Psychologen auf die Haft vorbereitet hat. Sie wusste, dass sie über mehrere Jahre in Haft gehen würde und hat hart gekämpft. Es ist nicht so, dass da drinnen ein vertrauensvolles Verhältnis herrscht. Das ist ein Hauen und Stechen.
Ein sehr spannendes Thema! Das sind Dinge, über die man sich ja sonst nicht unbedingt viele Gedanken macht!
Meiner Meinung nach ist ein Großteil der Inhaftierten überflüssigerweise in Haft. Da gibt es wesentlich bessere Maßnahmen, um den Menschen als produktives Mitglied in die Gesellschaft einzugliedern. Ein sehr bekanntes Beispiel ist Uli Hoeneß. Er hat seine Anerkennung auch zurück. Ersatzfreiheitsstrafen sind für mich da ein großes Problem. Für den kleinen Teil der schweren Haftstrafen habe aber auch ich keine Lösung. Dennoch haben diese Menschen meiner Meinung nach Anspruch auf soziale Kontakte.
Ist Dir im Rahmen deiner bisherigen Tätigkeit ein besonderes Erlebnis im Kopf geblieben, an das Du immer wieder gerne zurückdenkst?
Es ist unglaublich wichtig, dass es auch intern Menschen gibt, die das Thema positiv besetzen. Ein Beispiel ist der Leiter des Sozialdienstes Daniel Rilli von der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Das ist jemand, der stark betont, welche Bedeutung das Ehrenamt in der Justiz hat. Dann habe ich bei unserer alljährlichen Fachtagung einen Ehrenamtler kennengelernt, der selbst süchtig war und auch straffällig wurde. Der ist dann trocken geworden und hat sich für das Ehrenamt entschieden. Das fand ich ganz faszinierend, was für eine Haltung er hat. Er ist durch die harte Schule des Lebens gegangen und nun gibt er Vieles zurück, führt mit vielen Brieffreundschaften, begleitet Menschen. Das finde ich sehr spannend und unglaublich beeindruckend. Aufgrund seines Hintergrunds ist er Frührentner und investiert seine Zeit jetzt so. Mit einer richtigen Erfolgsstory bin ich lieber vorsichtig. Am Ende des Tages ist es auch nur eine Momentaufnahme. Das wäre bei uns ja genau so.
Letzte Frage: Mal angenommen, Du könntest für einen Tag Bürgermeisterin von Bielefeld sein … Was würdest Du verändern?
Ich würde versuchen, die inneren Mauern einzureißen. Ich würde gerne in das Thema Sensibilisierung investieren. Egal wie, ob das jetzt Projekte sind oder einfach meine Präsenz als Bürgermeisterin, allein damit kann man ja schon etwas steuern. Außerdem würde ich die ganzen Projekte, die bereits finanziert werden, auch weiter finanzieren und zudem gucken, ob man noch mehr Gelder aufbringen kann. Es ist ja erwiesen, dass sozialpädagogische Maßnahmen Kriminalität mindern und demnach auch die Resozialisierung steigern – und da würde ich schauen: Was hat Bielefeld schon, was geht noch? Wie kann ich mit meiner Präsenz in meinem Amt auch sensibilisieren? Zusätzlich würde ich selbst ein Ehrenamt übernehmen und dafür Werbung machen. Selbst jede Woche ins Gefängnis fahren, Insassen besuchen und damit auch ganz offen leben, um so selbst ein Vorbild für die Gesellschaft zu sein. Einfach auch, um diese Schwellen abzubauen. Zusätzlich würde ich Arbeitgeber ansprechen zwecks Arbeitsverhältnissen für Menschen, die aus der Haft kommen. Es ist wichtig, dass man Kooperationen schafft und sie ein Arbeitsverhältnis eingehen können.
Liegt Dir denn sonst noch etwas auf dem Herzen?
Ich finde es manchmal sehr erschreckend, wie kurzsichtig viele Menschen sind. – Die Inhaftierten sind selbst schuld. Wenn man es verkackt, landet man halt im Knast. – Und da gibt es noch viel mehr. Das erzeugt in mir ein tiefes Unverständnis. Je mehr Zwang, umso größer ist auch der Aufschrei. Das ist auch richtig so. Härte erzeugt Härte und kein Verständnis. Strategien springen da auch nicht raus. Die Verharmlosung dieses absolut krassen Eingriffs in die Würde des Menschen ist ein absolut wunder Punkt bei mir. Das finde ich unverhältnismäßig und schlicht arrogant. Hier wünsche ich mir einfach mehr Offenheit. Dass die Menschen alle mal in den Knast gehen. Jeder eine Führung mitmacht. Und dass jeder mal mit der Realität konfrontiert wird. Und das als Pflichtprogramm.