Herr Lehmgrübner: Wie sind Sie zu der Stiftung Solidarität gekommen?
Christian Lehmgrübner: Ich habe Erziehungswissenschaften studiert und bin während der Corona-Pandemie auf die Stiftung aufmerksam geworden. Hier habe ich zunächst die Schnelltest-Stationen betreut, wollte aber gerne auch andere Aufgaben übernehmen. Herr Schaible, unser Geschäftsführer, bot mir dann an, Teil der Geschäftsleitung der Alltagshilfen zu werden. Und genau das bin ich nun seit Januar 2022.
Wie war das bei Ihnen, Herr Wrobbel?
Markus Wrobbel: Hauptberuflich bin ich Vorstand bei der Arbeiterwohlfahrt in Bielefeld. Herr Schaible sprach mich aber an und fragte, ob ich mich nicht nebenberuflich bei den Alltagshilfen engagieren und hier meine kaufmännische Expertise einbringen möchte. Das Angebot habe ich sehr gerne angenommen, auch wenn die Bezeichnung „nebenberuflich“ der hohen Verantwortung kaum gerecht wird. Gerade, weil ich zudem auch ein Auge auf das Personalwesen habe. Ich bin aber überzeugt: Gemeinsam können wir hier eine ganze Menge in und für die Menschen in Bielefeld bewegen.
Wie sieht dieses Engagement denn genau aus?
Christian Lehmgrübner: Bei den Alltagshilfen setzen wir uns für Menschen mit Pflegegrad ein. Das heißt: Wir bieten Unterstützung im Alltag – etwa bei Arztbesuchen oder Einkäufen. Dazu gehören aber auch Freizeitaktivitäten wie Gesellschaftsspiele oder das Vorlesen. Vieles, was uns in der Jugend einfach erscheint, ist im Alter einfach nicht mehr selbstverständlich und eine echte Herausforderung. Die meisten Menschen denken dabei nur an Dinge wie die Reinigung der Wohnung. Die Alltagshilfen sind aber viel mehr als das. Einsamkeit im Alter ist zum Beispiel ein großes Thema, um das wir uns kümmern. Wir haben uns deshalb gemeinsam ein Konzept und auch einen Plan für die Finanzierung überlegt.
Gab es denn ein bestimmtes Ereignis oder einen Auslöser, der Sie dazu bewogen hat, sich sozial zu engagieren?
Christian Lehmgrübner: Als 2018 klar wurde, dass eine rechtliche Grundlage für Hilfstätigkeiten wie die unseren geschaffen werden soll, waren meine Vorgänger überzeugt, dass es genau das ist, wofür wir stehen wollen. Abgesehen von meinem älteren Vater zuhause fallen mir aber keine persönlichen Berührungspunkte ein.
Markus Wrobbel: Die Idee mit den Alltagshilfen war ja bereits geplant und umgesetzt, bevor wir hier ins Spiel gekommen sind. Wir wollten das Ganze etwas professioneller und kaufmännisch fundierter auf die Beine stellen. Mit unserer Erfahrung möchten wir dafür sorgen, dass die Alltagshilfen einen stabilen Rahmen haben, in dem den Menschen vor Ort geholfen werden kann. Das kann man aber nur, wenn man sich mit der eigentlichen Aufgabe der Alltagshilfen identifiziert. Wer sich nicht gesellschaftlich engagieren möchte, hat im Sozialwesen nichts verloren.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie dabei gerade zu Beginn?
Markus Wrobbel: Das Fundament stand bereits. Was es brauchte, waren geordnete Strukturen und eine bessere Koordination der einzelnen Teams. Auch die Zusammenarbeit und der Austausch mit den Kostenträgern war etwas, was wir neu angepackt haben. Außerdem musste das Personalwesen reformiert werden, da wir innerhalb kürzester Zeit sehr stark gewachsen sind. Der Aufbau dieser Strukturen war sicher eine Herausforderung.
Christian Lehmgrübner: Die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen gestaltete sich zu Beginn etwas schwierig. Da existierten einige Parallelwelten – auf der einen Seite die Alltagshilfe vor Ort und dann die Perspektive der Administratoren. Der Austausch blieb etwas auf der Strecke und musste wesentlich transparenter gestaltet werden. Corona hat diese Aufgabe nicht unbedingt erleichtert, aber wir sind auf einem guten Weg!
Was müsste denn Ihrer Meinung nach getan werden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken?
Christian Lehmgrübner: Ein enormes Problem ist die Marginalisierung von alten und auch behinderten Menschen. Diese werden in unserer Gesellschaft oft an den Rand gedrängt und sind kaum sichtbar. Hier müsste auf Seiten des Staates viel mehr getan werden, damit die Unterstützung bei den Menschen auch wirklich ankommt und sie mit ihren Bedürfnissen stärker in den Fokus rücken. Gerade in großen Städten passiert das noch viel zu wenig. Es kann aber jeder selbst aktiv werden – auch außerhalb von Initiativen wie der unseren. Unter mir wohnen zwei ältere Menschen, die ich während der Corona-Pandemie unterstützt habe. Sie fahren nicht mehr so gerne Auto und so habe ich sie beispielsweise zum Einkaufen begleitet. In Städten funktioniert so etwas aber nur selten, da hier die Anonymität einfach größer ist und selbst Nachbarn sich kaum kennen, geschweige denn gegenseitig unterstützen. Dabei kann schon ein kleines Gespräch im Hausflur oder das Zuhören eine Menge bewirken.
Markus Wrobbel: Das sehe ich genauso. Die zunehmende Anonymität erschwert älteren Menschen den Zugang zur sozialen Teilhabe. Natürlich gibt es Angebote wie Altenclubs oder Begegnungszentren. Die Hemmschwelle, diese Angebote aber auch wahrzunehmen, ist jedoch enorm hoch und aus meiner Sicht das eigentliche Problem. Und selbst wenn der Wille dazu existiert, ist die nötige Mobilität manchmal einfach nicht vorhanden. Für jemanden, der auf einen Rollator angewiesen ist, ist der Weg in den nächsten Stadtteil schon eine halbe Weltreise. Hinzu kommen komplizierte ÖPNV-Fahrpläne und das komplexe Ticketsystem. Viele ältere Menschen blicken da kaum noch durch. Wir unterstützen gerne auch hier, aber kommen natürlich irgendwann an unsere Grenzen.
Wie finden die Menschen denn zu Ihnen?
Christian Lehmgrübner: Über das Internet findet kaum jemand zu uns. Die meisten erfahren durch persönliche Kontakte von unserer Arbeit. Also über die klassische Mund-zu-Mund-Propaganda. Oft wird dann einfach mal angerufen und wir müssen erst einmal genauer erklären, was wir eigentlich anbieten und welche Kosten die Pflegekassen übernehmen. Manche Besucher werden auch über die beklebten Fahrzeuge der Arbeitshilfen auf uns aufmerksam.
Wie finanzieren sich die Alltagshilfen genau?
Christian Lehmgrübner: Grundsätzlich ist es so, dass Menschen mit einem Pflegegrad, beginnend ab Pflegegrad 1, Anspruch auf gewisse Leistungen haben. Leistungen wie die der Alltagshilfen werden zum Beispiel mit 125 Euro monatlich von den Krankenkassen bezuschusst. Wir beraten unsere Kunden hier und zeigen, welche Möglichkeiten es gibt, eine Förderung oder einen Zuschuss zu erhalten.
Markus Wrobbel: Aufklärung ist tatsächlich sehr wichtig. Denn viele Menschen mit einer Pflegestufe wissen gar nicht, was ihnen alles zusteht. Die Pflegekassen sind da sehr zurückhaltend und der Kunde muss sich die meisten Informationen selbst holen. Das ist aber von Pflegekasse zu Pflegekasse sehr verschieden ausgeprägt.
Was sollten Menschen mitbringen, die sich ebenfalls gerne für die Alltagshilfen engagieren möchten?
Christian Lehmgrübner: Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Die Erfahrung zeigt uns, dass Arbeitszeugnisse wenig über die Qualifikation oder die Motivation eines Menschen aussagen. Viel wichtiger sind für uns das persönliche Kennenlernen, Erfahrung im sozialen Bereich und ein gutes Bauchgefühl.
Markus Wrobbel: Organisationstalent, Empathie und Belastbarkeit sind enorm wichtig. Viel wichtiger als gute Noten! Und: Vielen ist gar nicht klar, dass wir auch junge Menschen begleiten. Wer also ausschließlich in der Altenpflege arbeiten möchte, ist hier falsch. Wir sind wirklich für jeden da, der Unterstützung benötigt. Gerade das macht ja einen großen Reiz unseres Jobs aus.
Haben Sie in den Alltagshilfen bestimmte Erfahrungen gemacht, an die Sie gerne zurückdenken?
Christian Lehmgrübner: Vor einiger Zeit hatte ich ein Gespräch mit zwei Kunden, die mit unserem Team gerne das Kartenspiel Phase 10 spielen. Ich wollte den formalen Papierkram erledigen und habe dabei die Frage gestellt, wie wir die beiden denn genau unterstützen könnten. Die Antwort: „Ja Phase 10 kann ich schlecht allein spielen, alles andere schaffe ich noch.“ Da war ich erst einmal baff (lacht).
Herr Wrobbel, Herr Lehmgrübner – ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit den Alltagshilfen!