Ulrich, bei der Essener Tafel gab es einen Skandal, weil Ausländer von der Nahrungsmittelausgabe ausgeschlossen werden sollten. Wie ist deine Meinung dazu?
Das Problem ist: Man kann den Kuchen nur einmal verteilen. Wenn sich manche nicht entsprechend verhalten, weil sie eventuell einen anderen Hintergrund haben, anderes gewohnt sind oder erlebt haben, muss man ihnen manchmal zu verstehen geben, wie sie sich sozialveträglich verhalten sollten.
Wir haben hier ein guten Miteinander und bewahren dieses gerne. Deswegen kennen unsere Gäste unsere Regeln genau. Wir haben friedlichen Ort geschaffen, an dem alles weitestgehend gesittet abläuft. Ruhestörer aller Art werden ermahnt und müssen uns ggfs. verlassen. Besonders wenn Gäste lauter und dominanter sind, besteht ja die Gefahr, dass sie die ruhigen und schwachen Menschen verdrängen. Doch genau das wollen wir auf keinen Fall.
Du würdest dir wahrscheinlich mehr politische Hilfe wünschen, richtig?
Es wäre schon toll, wenn sich die Kommune mehr um ihre Bürger kümmern würde. Die Stadt hat es natürlich auch nicht leicht, wenn die Mittel fehlen. Aber dafür sind wir nicht verantwortlich. Wir machen einen guten Job und können ihn auch weiter machen, doch mehr Unterstützung von der Politik ist dringend nötig. Besonders durch die Flüchtlinge haben wir mehr Besucher bekommen, aber die Menge an Lebensmittel wurde nicht gesteigert. Hier fehlen uns dann die Mittel, allen Essen zu bieten. Staatliche Hilfe bekamen wir nicht. Wir wurden nicht einmal gefragt. Generell wird die Arbeit von Vereinen wie uns nicht genügend gewürdigt. Es mangelt an Unterstützung und Anerkennung.
Ich kann mir vorstellen, dass das schwierig ist. Würdest du sagen, Bielefeld wird ärmer?
Das kann man auf jeden Fall so sagen, denn es gibt so viele, die auf Hilfe angewiesen sind. Das ist Wahnsinn. Wir sind letztendlich am Ende dieser Kette und wollen die Leute nicht abweisen, aber es ist einfach so, dass wir nicht genug Mittel haben. In Verbindung mit den anderen Stadtteilen unterstützen wir uns gegenseitig, aber die Bielefelder Tafel lehnt dies beispielsweise ab.
Ihr verteilt ja auch zu Weihnachten und an Silvester Essen. Wie ist denn da die Atmosphäre?
Ganz toll. Die Leute haben ja auch am Feiertag Hunger. Deswegen haben wir da geöffnet und lassen niemanden alleine. Es gibt besonderes Essen, das von Kirchen gespendet wird. Das ist super, weil es immer etwas anderes in verschiedenen Schüsseln gibt – wie auf einer Party. Die Gemeindemitglieder machen da die tollsten Sachen, alles was man sich vorstellen kann. Zur Weihnachtszeit kommen nicht so viele Leute, meistens 80 bis 100. Aber gerade für die einsamen Leute ist das toll.
Außerdem: Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind und noch ein paar Angehörige haben, denen sie etwas schenken möchten, haben dann am Ende des Monats kein Geld mehr für Nahrungsmittel übrig. Diese Leute wollen wir auch mit der Weihnachtskisten-Aktion unterstützen, die wir nun schon lange am Laufen haben. Meist schaffen wir das auch. Wir gestalten den Tag dann entsprechend und freuen uns, anderen das Weihnachtsgefühl schenken zu können. Das berührt nicht nur die Gäste, sondern auch die Mitarbeiter.
Wie bist du selbst zum Bielefelder Tisch gekommen?
Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich tagsüber viel Freizeit hatte und dachte, ich könnte noch einer zusätzlichen Tätigkeit nachgehen. So habe ich beim Bielefelder Tisch in der Leitung ausgeholfen, war als Hausmeister beschäftigt, half beim Supermarkttag, ordnete Unterlagen und vieles mehr. Schließlich wurde ich dann Geschäftsführer. Wir haben zwar viele tolle Mitarbeiter, aber leider nur wenige, die Verantwortung übernehmen können oder wollen. Ich werde zwar auch unterstützt, aber vieles mache ich allein. Das hat den Vorteil, dass man alles in der Hand hat, aber auch den Nachteil, dass man nicht krank werden darf (lacht).
Was gefällt Dir an der Arbeit?
Ich war noch nie so lange in einem Job und die Arbeit macht mir immer noch Spaß, weil jeder Tag besonders ist und ich viel Verantwortung übernehmen kann. Mit der Nachfolge gestaltet es sich leider etwas schwierig. Die Menschen hier stellen einen Querschnitt der Gesellschaft dar und deswegen ist es oft schwer, alles zu koordinieren. In manchen Fällen mussten wir uns auch von Mitarbeitern trennen. Einmal fragte mich jemand, was er denn selbst mitnehmen dürfte.
Wenn der Kühlschrank Zuhause leer ist, verstehe ich das zwar, aber das ist einfach die falsche Motivation für den Job. Auf der anderen Seite haben wir viele Mitarbeiter, die über sich hinauswachsen. Als wir hier vor zwei Jahren mal einen Brand hatten, gab es Menschen, die sich hier enorm eingesetzt haben. Es ist schon toll, was Leute leisten können und leisten wollen.
Für unsere Arbeit haben wir bereits mehrere Preise gewonnen und bald wollen wir eine kleine Reise machen, um unseren Mitarbeitern unsere Dankbarkeit zu zeigen. So zeigt sich unsere Wertschätzung nicht nur in einem Dankeschön, sondern auch mal mit einem Erlebnis, das sich vielleicht nicht jeder Mitarbeiter selbst leisten könnte.
Seit wann gibt es den Bielefelder Tisch eigentlich?
Wir sind seit Juni 1996 aktiv. Damals haben wir ganz klein angefangen. Heute – rund 23 Jahre später – sind wir deutlich gewachsen. Ich selbst bin zwei Jahre nach der Gründung dazu gekommen und begleite das Projekt seitdem als Mann für alle Fälle.
War der Bielefelder Tisch schon immer am selben Standort?
Nein, leider nicht. Wir mussten die Räumlichkeiten schon oft wechseln und waren sogar unter freiem Himmel am Siegfriedplatz tätig. An manchen Standorten hatten wir Probleme mit den Nachbarn, die nicht wollten, dass unsere Gäste in der Nähe ihrer Grundstücke rauchten oder tranken. Außerdem standen die meisten Räumlichkeiten uns nicht dauerhaft zur Verfügung, sondern zum Beispiel nur am Samstag. Das machte es oft schwierig, die Ausgabestelle vorzubereiten und aufzubauen. Als wir dann unseren Standort in der Sudbrackstraße hatten, durften wir die Räume auch unter der Woche nutzen und hatten mehrere Etagen zur Verfügung stehen. So konnten wir unsere Öffnungszeiten auf Dienstage, Donnerstage und Samstage ausweiten. Seit 2001 sind wir nun am heutigen Standort an der Heeper Str. 121a.
Was unterscheidet euch von der Bielefelder Tafel?
Die Tafel ist etwas ganz anderes. Dort handelt es sich um eine reine Lebensmittelausgabe. Das heißt, du bekommst dort deine Tüte und kannst wieder gehen. Ich finde gut, dass es die Tafel in fast jeder Großstadt gibt, denn genau wie wir nutzen sie die Lebensmittel, die von den Supermärkten sonst weggeschmissen werden würden. Unser kulinarisches Angebot ist mittlerweile sehr vielfach. Wir haben immer verschiedene Hauptspeisen sowie zwei Suppen – eine mit und eine ohne Fleisch, damit sich auch Vegetarier angesprochen fühlen.
Zusätzlich bieten wir Nachtisch an. Meistens gibt es hier ganz klassisch Kaffee und Kuchen. Es ist alles gratis, sodass die Gäste so viel essen dürfen, wie sie wollen. Der Rest darf dann auch mitgenommen werden. Darüber hinaus bieten wir auch Hilfe in medizinischen und rechtlichen Fällen – etwas, das die Tafel nicht tut. Uns prägt besonders der Aspekt der Gemeinschaft. Wir wollen Menschen nicht nur eine Mahlzeit servieren, sondern sie auch aus ihrer Vereinsamung holen. Das tut vielen gut und erfüllt auch unsere Mitarbeiter.
Ich habe gelesen, ihr habt etwa tausend Gäste in einer Woche. Stimmt das?
Ja, das kann man so sagen. Ich würde schätzen, dass wir 150 bis 200 Gäste pro Tag empfangen. Am Monatsanfang sind es meistens weniger. In der Mitte des Monats steigt die Zahl dann langsam, weil sich das Geld dem Ende neigt. Ich würde in dieser Situation wahrscheinlich den gesamten Monat lang kommen, denn schließlich spart man so bares Geld. Und: Besonders Herren im Alter von etwa 70 Jahren haben oft nie gelernt, richtig zu kochen. Außerdem macht alleine einkaufen, alleine kochen und alleine essen viel weniger Freude.
Bei uns sind die Gäste nicht allein und müssen nicht einmal spülen. Sie stellen sich einfach in der Schlange an, erhalten ihr Essen und können es gemeinschaftlich genießen. Die Entscheidung, dieses Angebot wahrzunehmen, muss aber jeder für sich treffen. Wir sind und bleiben jedenfalls für alle da. Seit nun 23 Jahren bieten wir das Essen auch denjenigen an, die nur noch drei Cent in der Hosentasche haben. Dieses Angebot ist auch konstant. Im Gegensatz zu anderen Suppenküchen machen wir nicht zeitlich begrenzte Versprechungen und verlangen am nächsten Tag auf einmal Geld. Diese Kontinuität mach mich besonders glücklich.
Wie finanziert ihr euch eigentlich? Über Spenden?
Ja, über Spenden und den geringen Betrag für die Lebensmitteltüten. Auch die Einnahmen der Kleiderkammer sind da, aber meistens sind es tatsächlich Privat- oder auch Firmenspenden. Vor allem zur Weihnachtszeit kommt da oft etwas mehr. Aber wir haben auch viele regelmäßige Spender, die monatliche Daueraufträge von fünf Euro aufwärts eingerichtet haben. Diese Spenden erhalten uns am Leben, da wir natürlich auch unsere Miete zahlen müssen.
Obwohl wir für die Stadt arbeiten, fallen auch bei uns Stromrechnungen an, und die Autos und Versicherungen müssen ebenfalls bezahlt werden. In einer Woche fahren wir bis zu 500 Kilometer, um die Lebensmittel zu holen. Die Tankstellen können wir mit einem schönen Körbchen voller Obst leider auch nicht zufrieden stellen (lacht). Dazu kommen auch Hygieneschulungen für die Mitarbeiter und vieles mehr. Du siehst, da kommt einiges zusammen.
Das glaube ich. Hier arbeiten hauptsächlich Ehrenamtliche, oder?
Ja, das stimmt. Wir haben momentan etwa 65 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Manchmal leistet auch jemand seine Sozialstunden bei uns ab oder wir bekommen anderweitige Unterstützung, aber die meiste Arbeit erfolgt ehrenamtlich. Dafür sind wir sehr dankbar, denn ohne die Ehrenamtlichen würde das alles gar nicht funktionieren. Wenn nicht täglich zwölf bis fünfzehn Leute hier sind, läuft der Laden nicht.
Habt ihr viele langfristige Mitarbeiter?
Es sind einige Mitarbeiter, die seit Jahren ehrenamtlich arbeiten – teilweise sind sie schon seit der Gründungszeit mit dabei. Unsere älteste Mitarbeiterin ist 89 Jahre alt und hilft immer noch gerne in der Küche aus. Durch die langfristigen Aushilfen ist der Bielefelder Tisch so etwas wie eine große Familie. Das fördert vor allem die Freude daran, hier zu arbeiten. Alle Mitarbeiter investieren gerne ihre Freizeit und sind mit viel Liebe dabei. Viele finden hier eine Bestätigung, die sich auch ohne Lohn auszahlt. Wir passen uns gerne an unsere Mitarbeiter an und stellen beispielsweise auch Personen mit Einschränkungen ein. Die Aufgaben werden dann auf jeden einzelnen abgestimmt.
Egal, wie klein eine Tätigkeit zunächst wirken mag – Wir sind für jeden einzelnen Mitarbeiter dankbar, denn nur gemeinsam können wir so erfolgreich sein, wie wir es momentan sind. Natürlich ist es auch für die Mitarbeiter ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie gebraucht werden. Vor allem, wenn ihre Einschränkungen ihnen andere Jobs nicht mehr zugänglich machen, finden sie hier das richtige für sich und können wieder in ihrer Arbeit aufgehen. Das Ehrenamt erfüllt unsere Mitarbeiter, ganz gleich, ob sie zwei- oder viermal die Woche da sind.
Das Projekt wächst jedem ans Herz, der hier hilft – Das ist der Grund, wieso wir so viele langfristige Mitarbeiter haben. Wenn man jahrelang auf Sozialhilfe angewiesen ist und nicht mehr arbeitet, steigert die Tätigkeit hier das Selbstwertgefühl der Mitarbeiter enorm.
Natürlich haben wir auch Leute, die mit beiden Beinen im Leben stehen, doch auch diese finden Erfüllung im Ehrenamt. In diesen Fällen ist es besonders schön, die anderen mitzuziehen und zu wissen, dass es einem selbst genauso schlecht gehen könnte. Dieser Gedanke stärkt den Zusammenhalt sehr. Denn die Arbeit hier ist nicht immer einfach und wir haben natürlich auch manchmal Mitarbeiter, denen es zu viel wird. Die Arbeit mit Hartz IV-Empfängern, Alkoholikern oder Drogenabhängigen kann auch manchmal Ärger machen.
In manchen Fällen fliegt dann auch jemand raus, wenn er die anderen Gäste einschränkt. Wir wollen für die Schwachen da sein und passen auf, dass es jedem Gast bei uns gut geht. Zum Glück ist es meistens friedlich und ruhig. Das liegt aber nicht zuletzt daran, dass wir Grenzen haben und diese klar aufzeigen.
Mal angenommen, du könntest für einen Tag Oberbürgermeister von Bielefeld sein. Was würdest du gerne umsetzen?
Dann würde ich Vereinigungen unterstützen, die ehrenamtlich arbeiten. Das gehört für mich zu den Grundaufgaben einer Kommune. Man muss dafür sorgen, dass die Menschen vernünftig leben können. Bezahlbarer Wohnraum gehört auch dazu. Geringverdiener werden meistens einfach abgehängt.
Die Leute haben sich das nicht ausgesucht. Das ist etwas, was ich hier täglich erlebe. Viele rutschen in diese Situationen hinein, weil sie auf dem Arbeitsmarkt einfach nicht mehr gefragt sind. Heute musst du einfach alles können, zehn Jahre Arbeitserfahrung haben und zwanzig Jahre jung sein. Als Frau darfst du auch nicht schwanger werden, denn die Familienpolitik wird nicht genug gefördert. Viele Menschen sind in dieser Leistungsgesellschaft einfach nicht mehr gefragt. Vor allem ältere Menschen kriegen keine Chance mehr. Das läuft definitiv falsch.
Was würdest du sagen, ist eine unterschätzte Qualität von Bielefeld?
Ich bin gebürtiger Bielefelder und habe immer hier gewohnt. Bielefeld ist einfach so liebenswert, weil es eine gemütliche Großstadt ist – anders als Köln oder Hamburg. Bielefeld liegt wunderschön und sehr zentral in Deutschland, sodass man überall gut hinkommt. Die Stadt hat eine schöne, klare Struktur. Hier hat man alles, was man braucht, und muss hier deswegen auch nicht weg. Vor ein paar Jahren wollte ich mal nach Berlin, meine heimliche Liebe, aber das hat sich nie ergeben. Bielefeld ist sehr schön und unterschätzt, auch wenn die Ostwestfalen etwas ruhiger sind. Besonders gerne mag ich die zurückhaltende, ruhige Art der Menschen hier. Man erkennt Bielefelds Qualität vielleicht erst auf den zweiten Blick, aber dann überzeugen sie und du kannst immer auf sie zählen.
Ulrich, ich danke dir für das Gespräch.