Jürgen, welche Idee steht hinter dem Künstlerhaus Lydda?
Die ursprüngliche Idee war, dass das Künstlerhaus einen kulturellen Treffpunkt für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen bietet. Mittlerweile ist es ein künstlerischer Ort geworden, an dem Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gemeinsam kreativ arbeiten und ihre Werke ausstellen.
Das Künstlerhaus hatte 2019 Jubiläum. Es besteht also schon seit 50 Jahren?
Genau, 2019 war das Jubiläumsjahr vom Künstlerhaus und wir hatten jede Menge Programm. Beispiele sind eine Ausstellung in Japan und eine deutschlandweite Wanderausstellung, die das ganze Jahr lief. Und am 06. Dezember 2019 feierten wir dann unseren Geburtstag. Denn am 06. Dezember 1969 wurde hier zum ersten Mal die Galerie geöffnet. Zu den Nachtansichten im April 2020 wird es dann auch noch ein Buch über das Künstlerhaus geben, dass die ganze Bandbreite aus unserem 50-jährigen Bestehen abbildet. Das Buch heißt „Innenlicht – 50 Jahre Künstlerhaus Lydda“ und ist im Kerber Verlag erschienen.
Mittlerweile gibt es auch Projekte, bei denen die Künstler als Dozenten in verschiedene Bildungseinrichtungen gehen und auf sehr authentische Weise ihre Kunst vorstellen. Da werden die Schubladen komplett umgedreht und gerade Kinder und Jugendliche sind jedes Mal sehr begeistert.
Warum ausgerechnet Japan?
Als einmal das japanische Kaiserpaar in Bethel zu Besuch war, hat mein Vorgänger die Kaiserin in das Haus Lydda eingeladen. Die Kaiserin war von den Bildern so begeistert, dass wir die Gemälde damals auch in Japan ausstellen durften. Seither haben wir sehr gute Kontakte nach Osaka – aber auch nach Paris oder Belgrad.
Wer kann sich denn beim Künstlerhaus engagieren und hier mitmachen?
Jeder der möchte, kann bei uns anfragen. Die Künstler entscheiden dann, wer in die Gruppe aufgenommen wird, da wir leider nur begrenzt Platz zur Verfügung haben. Neben der kreativen Arbeit in unseren Räumen bieten wir aber auch Künstlergespräche oder Kunstkurse an.
Wie viele Künstler sind hier aktuell aktiv?
Etwa hundert. Bei unserer Sommerakademie haben wir eine Woche lang draußen und in den Ateliers gearbeitet. Daran waren rund 80 Künstler beteiligt.
Wo, mit so einer großen Gruppe hätte ich nicht gerechnet.
Ja, solange im Winter die Heizung funktioniert, läuft es ganz gut (lacht).
Und wie sieht es mit eurer künstlerischen Bandbreite aus?
Wir stellen verschiedene Skulpturen her und arbeiten mit Holz, Beton, Sandstein und vielen anderen Werkstoffen. Bei den Bildern sind Textilien, Öl auf Leinwand, Stickereien oder auch – ganz untypisch – ein IKEA-Brett, Arbeitsmaterialien.
Können die ausgestellten Werke auch erworben werden?
Ja natürlich. Das erfolgt dann immer in Absprache mit den Künstlern, die auch die Preise festlegen. Werke, die nicht erworben werden können, sind Teil unserer Sammlung. Etwa fünftausend Arbeiten befinden sich darin, denn seit dem Beginn unseres Bestehens, sammeln wir Kunst und behalten die Werke gerne als ein Fragment ihrer Zeit und Gesellschaft.
Ich habe das Motto gelesen: „Ich im Bezug zur Welt.“ Was genau bedeutet das?
Das Motto beschreibt den Pendelschlag, in dem wir uns befinden. Auf der einen Seite haben wir das Künstlerhaus, das niemals abgeschlossen sein darf, sondern sich nach außen öffnet. Denn Kunst als Medium hat eine therapeutische Wirkung und kann enorm viel sichtbar machen oder Unsichtbares hervorholen. Die Beziehung zwischen Künstler, Kunstwerk und Betrachter ist uns sehr wichtig und wird hier in Form von Ausstellungen und Künstlergesprächen mit Leben gefüllt. So kommen alle Beteiligten untereinander ins Gespräch und die Projekte bleiben lebendig.
Mal ganz platt gefragt: Sind Menschen mit Einschränkungen intuitivere Künstler?
Ich würde sagen, ihre Kunst ist anders. Einige Künstler planen jeden Schritt voraus. Bei anderen ergibt sich viel erst im laufenden Schaffensprozess. In Schulen ist es leider oft so, dass die Lehrer viel zu strikt vorgeben, wie das Ergebnis aussehen soll. So ist es bei uns nicht. Wir geben keine Themen vor. Die Künstler müssen selbst schauen, wohin die Reise geht. Wir sind nur so etwas wie Hebammen, die helfen, die Kunst auszudrücken. Wie gut das ankommt, merke ich auch durch meinen Lehrauftrag an der Fachhochschule Bielefeld. Ich lade Studierende zu uns ein und spüre, wie sie auf enorme Weise inspiriert werden. Daraus entsteht eine sehr kraftvolle Herangehensweise mit enormem künstlerischem Potenzial.
Du selbst arbeitest bereits seit 2007 im Künstlerhaus. Wie ist es dazu gekommen?
Das ist kurios. Ich habe im ZEIT-Magazin von dem Künstlerhaus gelesen und wie das Leben so spielt, bin ich später auf Umwegen dann tatsächlich Leiter des Künstlerhauses geworden. Meine Familie ist glücklicherweise mit mir nach Bethel mitgekommen und alles hat sich wunderbar gefügt.
Und wie finanziert sich das Künstlerhaus?
Durch Spenden. Dadurch, dass wir in die Stiftung Bethel integriert sind, können wir viele Projekte verwirklichen. Wir verkaufen wie gesagt auch Kunstwerke, aber der Erlös geht zu 50 Prozent an die Künstler. Mit dem restlichen Erlös finanzieren wir die Materialien.
Was ist eines der beeindruckendsten Erlebnisse aus den letzten Jahren, an das du dich erinnerst?
Da fällt mir sofort ein Künstler ein, der mittlerweile leider verstorben ist. Ich war mit ihm auf dem Weg nach Brüssel, wo seine Werke ausgestellt werden sollten. Er hat am Bahnhof spontan Menschen angesprochen und gedichtet – fast wie eine Performance. Ähnlich besonders war 2010 seine Ausstellung im MARTA Herford. Direkt nach der Eröffnung sagte er zu mir: „Okay, jetzt können wir auch wieder einpacken und nach Hause fahren.“ Ihm war es überhaupt nicht wichtig, dass die Menschen seine Arbeit sehen. Ihm hat es gereicht, etwas zu erschaffen, was dann für sich selbst steht. Das hat mich sehr beeindruckt.
Es geht im Künstlerhaus auch um Inklusion. Würdest du sagen, hier in Bielefeld sind wir damit mit Bethel weiter als andere Regionen?
Ja, ich denke schon. Ich glaube, der Inklusions-Gedanke hat hier Fuß gefasst. Wir reden gar nicht mehr darüber, sondern sind einfach eine offene Gesellschaft geworden. Vor allem hier im künstlerischen Bereich wird dieser Begriff auch gar nicht mehr gebraucht, weil es schon von Anfang an so war, dass alle zusammengearbeitet haben. Jeder ist so, wie er ist und wird genau so angenommen.
Zum Schluss zwei Fragen über Bielefeld selbst: Was denkst du, ist eine unterschätze Qualität der Stadt?
Bielefeld ist bescheiden. Außerdem hat Bielefeld kulturell viel zu bieten. Man muss eben manchmal nur zwei Mal hinschauen.
Angenommen, du könntest für einen Tag Oberbürgermeister von Bielefeld sein. Was würdest du tun, wenn du frei entscheiden könntest?
Ich würde eine städtische Galerie ins Leben rufen. Dadurch würde Kunst in Bielefeld wieder einen neuen Stellenwert bekommen. Eine künstlerische Fachhochschule für freie Kunst fehlt auch. Außerdem hätte ich noch gerne einen Museumsanbau mit unserer Sammlung, um diese noch stärker ans Licht zu bringen.
Jürgen, ich danke dir für das Interview!